23.04.11

Doel stirbt










Unser Karsamstags-Ausflug hat uns nach Doel gebracht, dem belgischen Garzweiler. Doel kämpft seit den 60er Jahren gegen einen Riesen, der sich langsam aber gewaltig seinen Weg durch das Wasland bahnt: gegen den Antwerpener Hafen. 4 Dörfer wurden den neuen Becken, Kanälen und Docks bereits geopfert. Der gigantische Motor der belgischen Volksökonomie wächst und wächst und mit ihm die Verladehäfen von BASF, Bayer, Evonik, Monsanto, Total etc etc. 2010 wurden im zweitgrößten Hafen der EU 180 Millionen Tonnen Fracht angeliefert und es sollen noch mehr werden.

Das Dörfchen Doel hat im 16. Jahrhundert die Spanier überstanden, im 17. die Holländer, im 19. die Deutschen. Aber seit 10 Jahren wird hier ein Kampf ausgefochten, den die Bewohner schon verloren haben. Gegen den Protest der Dörfler setzte sich das Flämische Parlament mit Hilfe von Notstandsgesetzen durch und der Bau des Deurganckdoks begann. Seit 1999 ziehen die Menschen hier weg, zeitliche Wohnrechte sind mittlerweile aufgelöst, erste Häuser wurden abgerissen, Besetzer verjagt. Heute sollen in Doel noch etwa 80 Menschen leben und einige Dutzend Kraker.

Hätte es einen besseren Ort für einen Karsamstagsausflug gegeben, diesen Tag des Stillstands, den Tag ohne Hoffnung, ohne Perspektive? In der Kirche des Ortes feiert man übrigens noch immer Gottesdienst. Allerdings nicht am Ostersonntag. Himmelfahrt dagegen wird der Priester vorbei schauen.

07.04.11

300 Tage







Di Rupo, Chef der wallonischen Sozialisten, de Wever, Vorsitzender der separatistischen flämischen NVA und der flämische Christdemokrat Beeke, der im Moment um einen Kompromiss ringt. Inzwischen demonstrierten eine kleine Zahl verlorener Studenten für die nationale Einheit und ruft zur Frittenrevolution auf.

Nein, wir sind es doch nicht, Weltmeister im Regierungbilden. Nachdem wir im Januar an den Irakern vorbei zogen und das ausgiebig mit Fritten und Bier (sowohl wallonisches als flämisches) feierten, wurde nun bekannt, dass der Rekord doch noch bei den Kambodschanern liegt. 353 Tage haben sie im Jahr 2003 dafür gebraucht, dass die Regierung stand. Heute sind es bei uns grade 300 Tage. Aber so schnell geben wir uns nicht geschlagen.

Zunächst: Man kann nicht wirklich sagen, dass wir keine Regierung haben. 6 von 7 funktionieren., Flandern, die Wallonie, Brüssel und die 3 Sprachgemeinschaften werden regiert. Und dann gibt es natürlich noch “ontslag-nemend premier Leterme”, also den alten belgischen Premierminister, der munter weiter machen kann, obwohl er die Wahlen eigentlich dick verloren hat.

Denn mit einer neuen, demokratisch legitimierten föderalen Regierung will es einfach nicht klappen. Königliche Vermittler, Unterhändler und Berichterstatter geben sich die Klinke in die Hand. Und sie waren alle schon am Zug, rechts, links, liberal, französisch und niederländischsprachig, bislang ohne Erfolg. Das Problem? Die Wallonie hat links gewählt, Flandern rechts. Rechts und separatistisch. Im Wahlprogramm der großen Siegerpartei Flanderns, der NVA, heisst es, dass Flandern ein eigenständiger Staat werden soll. Und wenn nicht sofort, dann doch irgendwann.

Wie es soweit kommen konnte? Zunächst mal war da die populärste Fernsehsendung Flanderns, ein Quiz mit prominenten Spielkandidaten und dem überzeugendem Titel: “Der schlauste Mensch der Welt”. NVA Parteivorsitzender Bart de Wever (und sein Team) wusste viel, war charmant und schlagfertig und schaffte es bis auf den zweiten Platz. Danach stiegen seine Bekanntheits- und Popularitätswerte exponentiell und in der Folge die Wahlergebnisse seiner (davor noch kleinen) Partei.

Und dann sind da natürlich die alten Geschichten. Das Gefühl der Flamen, dass sie seit der Staatsgründung von den Französischsprachigen ausgenutzt werden, erst als Arbeiter, dann als Soldaten, jetzt -seitdem sie reicher sind- als Steuerzahler. Die rechten Parteien, die seit zwei Jahrzehnten in Flandern Erfolge feiern, wissen diese Ressentiments gut für sich zu nutzen und den Hass zwischen den Gemeinschaften zu schüren.

Jetzt wird also seit 300 Tagen verhandelt und die meiste Zeit geht es darum, wer mit wem sprechen will. Erst danach kommen Inhalte und die sind nicht leicht zu knacken. Wie können die föderalen Steuereinnahmen noch mehr auf die Regionen verteilt werden? Was soll in Zukunft mit der zweisprachigen Region Brüssel und ihrer Umgebung passieren? Können und sollen die verschiedenen sozialen Sicherungssysteme an die Regionen übertragen werden?

Eine starke Gegenstimme, die für den belgischen Gesamtstaat eintritt, gibt es nicht. Niemand der laut sagt, dass es noch vor 50 Jahren die Wallonen waren, die für die Flamen mitgezahlt haben, dass Belgien im Herzen Europas Vorbild für das Staatenbündnis ist, dass es eine Chance ist mit den Märkten der Welt gleich in 2 Richtungen natürlich verbunden zu sein, dass es soviele Staaten gibt, die viele Sprachen sprechen, dass Solidarität untereinander eine Tugend ist. Zumindest nicht hier, zumindest nicht in Flandern. Vielleicht in Brüssel, vielleicht auch in der Wallonie, aber davon kriege ich hier eigentlich nichts mit.

Fragt man hier nach der Staatskrise, kriegt man entweder erst gar keine Antwort oder es wird einem lachend entgegnet, dass doch eigentlich alles ganz gut laufe. Dass die Finanzmärkte mittlerweile kritisch über den Staat im Verfall denken und sich die Schuldzinsen erhöhen, dass man hunderte Jobs auf federalem Niveau nicht besetzen kann, dass es zwischendurch eine Asylkrise gab, das es keine Antworten auf die zukünftige Energieversorgung gibt und auch sonst kein Fortschritt zu verzeichnen ist, das merkt hier keiner? Sie werden es noch merken.

Das Dilemma: Gelingt die Regierungsbildung nicht, stützt das die identitätsstiftenden These der NVA: Dieser belgische Staat funktioniert einfach nicht mehr. Haben sie also überhaupt ein Interesse daran, dass es zu einer Regierung kommt? Das darf getrost bezweifelt werden. Und in der Tat: Seit Verhandlungsbeginn steigen die Umfragewerte für die Nationalisten, alle anderen verlieren. Kambodscha, wir kriegen euch!